Peter Seewald korrigiert Franziskus im Interview:

"Benedikt XVI. kein Übergangspapst"

REGENSBURG/ROM (kb) – Wie kürzlich bekannt wurde, hat Papst Franziskus seinen Vorgänger Benedikt XVI. als „Übergangspapst“ bezeichnet. Benedikt-Biograf Peter Seewald bezieht dazu in einem Interview mit der Katholischen SonntagsZeitung Stellung.

Das Franziskus-Zitat ist in einem neu erschienenen Buch des spanischen Vatikan-Korrespondenten Javier Martinez-Brocal enthalten und geht auf eine Interview-Äußerung des Papstes aus dem Jahr 2022 zurück. Franziskus berichtet darin über das Konklave 2005, bei dem Kardinal Joseph Ratzinger zum Papst gewählt wurde.

„Er war der Einzige, der zu dieser Zeit Papst sein konnte“, so Franziskus. Nach den Umwälzungen von Johannes Paul II., der in seinem 1978 begonnenen Pontifikat  enorm dynamisch gewesen sei, sehr aktiv, mit Initiative, einer, der viel reiste, habe man „einen Papst gebraucht, der ein gesundes Gleichgewicht bewahrt, einen Übergangspapst“, so der heutige Pontifex. „Wenn sie damals einen wie mich gewählt hätten, jemanden, der viel Chaos stiftet, hätte ich nichts erreichen können.“ Damals sei kein Wandel möglich gewesen.

Franziskus trat damit der Darstellung entgegen, er habe schon 2005 als Kardinal Jorge Mario Bergoglio Chancen auf das Papstamt gehabt. „Das Manöver bestand darin, meinen Namen zu nennen und die Wahl von Ratzinger zu blockieren“, sagte der Papst. Er sei dafür „benutzt“ worden. Nach einem Patt hätten „die Männer hinter der Abstimmung“ dann einen dritten, anderen Kandidaten präsentieren wollen.

Herr Seewald, in Regensburg bemüht sich das Institut Papst Benedikt XVI. darum, die Bedeutung dieses Pontifex und Theologen zu unterstreichen. Wie muss da die Aussage von Papst Franziskus wirken, Benedikt sei nur ein „Übergangspapst“ gewesen?
Joseph Ratzinger hatte als Einziger die Erfahrung, den Kopf, das Herz, die Noblesse und nicht zuletzt die Demut, um das Erbe des großen Johannes Paul II. in eine neue Zeit zu führen. Ohne Bruch, was niemand für möglich hielt. Richtig ist, dass Benedikt XVI. aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit von einem kurzen Pontifikat ausging. Daraus wurden immerhin acht Jahre, in denen er entscheidende Weichen stellte.

Zum Beispiel?
Viele der Reformen, die Papst Franziskus Popularität bescherten, wurden in Wahrheit von Benedikt XVI. ins Werk gesetzt. Er führte erstmals offene Bischofssynoden ein. Er begann mit dem Umbau des vatikanischen Finanzwesens. Er erzielte gewaltige Fortschritte im interreligiösen Dialog. Er intensivierte die Beziehung zum Judentum, die nie besser war als in seiner Amtszeit. Er schrieb als erster Papst der Geschichte eine Christologie. Sie gilt als Magna Charta für das Jesus-Bild der Kirche. Und, und, und. Hinzu kommt: Er gilt als der größte Theologe, der jemals auf dem Stuhl Petri saß, und als der Kirchenlehrer der Moderne. Vor allem sprach er ohne jede Zweideutigkeit und sorgte dafür, dass das Schiff Petri auf Kurs blieb. Nicht zuletzt hat sein Rücktritt, der erste eines wirklich regierenden Pontifex, das Papsttum verändert, wie es in der Neuzeit noch nie verändert wurde. Ein „Übergangspapst“? Na ja.

Was mag Franziskus bewogen haben, die Einschätzung vom „Übergangspapst“ unter die Leute zu bringen?
Gute Frage. Franziskus fährt immer zweigleisig. Einmal lobt er Benedikt, bezeichnete ihn sogar als „großen Papst“, dessen Person und Werk von Generation zu Generation immer deutlicher in Erscheinung treten würden, dann wiederum macht er ihn klein, nennt ihn Großvater, väterlicher Freund oder eben „Übergangspapst“.

Womit erklären Sie sich diese „Zweigleisigkeit“?
Von Anfang an wollte Bergoglio aus der Kontinuität der Päpste ausbrechen, Überkommenes zur Disposition stellen, durcheinanderwürfeln oder einfach auch nur „Chaos“ anrichten, wie er in dem neuen Buch von Javier Martinez-Brocal sagt. Traditionelle Formen bezeichnet er als „nostalgische Krankheit“. Wer der Herr im Hause ist, zeigte er demonstrativ mit der Schleifung des von Benedikt liberalisierten Zuganges zur Alten Messe. Der emeritierte Papst musste davon aus der Zeitung erfahren. Dies zum angeblich „herzlichen Verhältnis“ der beiden.

Franziskus sagt, in der Pontifikatszeit seines Vorgängers sei kein Wandel möglich gewesen. War Benedikt also in seinen Augen ein Papst des Stillstands?
Das würde die Persönlichkeit, die Schaffenskraft und den Auftrag, den Benedikt XVI. für sich sah, völlig verkennen. Ratzinger hat Geschichte geschrieben: als Impulsgeber des Zweiten Vatikanischen Konzils, als ein Erneuerer der Theologie, als Präfekt, der ein Vierteljahrhundert lang das Pontifikat Johannes Pauls II. maßgeblich stärkte. Und natürlich als Papst. Selbst die Attacken gegen ihn konnten nicht verhindern, dass er zum meistgelesenen Theologen der Neuzeit aufstieg. Dass er als Papst nicht alles richtig gemacht hatte, gestand Benedikt selbstkritisch ein. Deutlich aber wurde, dass er insbesondere auch im Skandal des sexuellen Missbrauchs die entscheidenden Maßnahmen ergriff und eine konsequente Null-Toleranz-Linie verfolgte.

Sie selbst haben Benedikt XVI. auch in Ihrer großen Ratzinger-Biografie als Theologenpapst gewürdigt. Hat er ein Alleinstellungsmerkmal, das die Kategorie „Übergangspapst“ als falsch erscheinen lässt?
Ich sehe ihn in erster Linie als Hirten, der sich in der Sorge um die Menschheit, um die Gläubigen, um die treue Überlieferung der Botschaft Christi nicht schonte. Sein Anliegen war, „unter den Verkrustungen den eigentlichen Glaubenskern freizulegen und diesem Kern Kraft und Dynamik zu geben“. Reform sei, betonte er, wieder zum Kern des Glaubens zu führen, nicht zu seiner Entkernung. In der Klarheit seiner Ansagen, der Schärfe seines ­Intellekts, der ­Brillanz seiner Ausdrucksweise kam ihm niemand gleich. Dazu hatte er eine warmherzige, menschliche Größe und Authentizität, durch die er das Evangelium nicht nur lehrte, sondern auch lebte. Niemand hat ihn je etwas Schlechtes über einen anderen sagen hören. Ratzinger habe „sehr viel zur Konsolidierung der Kirche im Glauben und zur Vertiefung des Glaubens beigetragen“, zollte sogar Kurienkardinal Walter Kasper dem Zurückgetretenen ­Respekt, bekanntermaßen nicht unbedingt ein Parteigänger Ratzingers. Er habe „sein Amt auf sehr milde, menschliche Art ausgeübt, auch in schwierigen Situationen“.

Die historische Einschätzung einer Persönlichkeit kann meist erst aus größerem zeitlichen Abstand getroffen werden. Welche Bedeutung Benedikts XVI. steht jetzt schon fest, welche erwarten Sie aus späterer Sicht?
Im Gegensatz zu so gut wie allen anderen Päpsten war Joseph Ratzingers Werk schon vor seinem Pontifikat groß und bedeutend, wobei ihm bei aller Intellektualität immer wichtig war, den Glauben der einfachen Leute zu verteidigen. Fakt ist: Dieser Mann schrieb nicht nur eine Jahrhundertbiografie, er hat wahrlich auch Geschichte geschrieben. Nicht zu vergessen seine Beiträge zur gesellschaftlichen Debatte, mit denen er weltweit als ein Vordenker der Zeitenwende gewürdigt wurde. Der englische Historiker Peter Watson hält ihn sogar für so bedeutend, dass er Ratzinger bereits in seiner Zeit als Kardinal zu den „Genies der Deutschen“ zählte, neben solchen Größen wie Beethoven, Bach und Hölderlin.

Was bedeutet das konkret für den Platz Papst Benedikts XVI. in der Geschichte?
Seine Stärke war, eine Krise zu erkennen, Korrekturen anzumahnen, Antwort zu geben auf die komplexen Fragen unserer Zeit – und die Botschaft des Evangeliums unverfälscht für nachfolgende Generationen zu bewahren, damit durch ein festes Fundament stets Neuanfänge ermöglicht werden. Bleiben wird auch sein prophetisches Wort, mit dem er früh darauf hinwies, dass das neue Heidentum „heute in der Kirche selbst“ sitzt, und sogar, wie wir in Deutschland sehen, in den obersten Etagen. Ich erinnere an die Freiburger Konzerthausrede, in der er vehement eine Entweltlichung forderte. Das Christentum dürfe sich nicht dem Zeitgeist ergeben, sonst sei es nicht mehr das „Salz der Erde“, von dem Jesus sprach, sondern würde von den Menschen zertreten werden.

Wenn Sie all das kurz zusammenfassen müssten: Wie würde Ihr Fazit lauten?
Benedikt XVI. steht nicht für eine Kirche von gestern, sondern für eine Kirche von morgen. „Der Vorgang der Kristallisation und der Klärung“, hielt er fest, werde die Kirche „manche guten Kräfte kosten“. Er werde „sie arm machen, zu einer Kirche der Kleinen sie werden lassen ... Aber nach der Prüfung dieser Trennungen wird aus einer verinnerlichten und vereinfachten Kirche eine große Kraft strömen“.

Interview: Karl Birkenseer

10.04.2024 - Bistum Regensburg